Zeit und Ort: Kreuzberg und
das Westberlin der 80er Jahre
" ...dahihten fängt die Mauer
an, ich fühl mich gut, ich steh auf Berlin" (Ideal)
Subkulturelle, politische und technologische
Charakteristika einer bestimmten zeitlichen Periode werden bekanntermaßen
oft auf einzelne Jahrzehnte aufgeteilt. Als hätte jedes Jahrzehnt
automatisch seine Eigenheit. Zumindest bot sich das im letzten Jahrhundert
für jedes Jahrzehnt an
Seit dem Millenium scheint die nachträgliche
hsitorisierende Charakterisierung der Jahr-
zehnte zu verblassen. Man spricht
beispielsweise weniger von den typischen Ereignissen und Entwicklungen
der nuller Jahre als von den sechziger oder siebziger Jahren des letz-
ten Jahrhunderts.
In der zweiten Hälfte des 20
Jahrhunderts erlebte Deutschland seine Jahrzehnte etwa so: Die sechziger
Jahre als eine des Ausbaus des in den 50ern begonnenen Wirtschaftswun-
ders, zugleich zahlreicher, durch
die Unruhen der Studentenopposition medial wenig be-
achteten großer Arbeiterstreiks
sowie der 1967 beginnenden antiautoritären Studenen- und Hippiebewegung.
Die 70er Jahre werden posthum charakterisiert als die des linksextremistischen
Terrororismus (vor allem der RAF), des Beginns des Punk sowie realpolitisch
als das jahrzehnt der von der SPD begonnenen friedlichen Koexistenz mit
der DDR. Die 80er Jahre erhielten ihre spezielle Färbung durch die
massive Atomkriegs-Gefahr durch Aufrüstung und dem Widerstand dagegen,
der Anti-Atomkraftwerks-Proteste, der
polnischen Oppositionsbewegung "Solidarnosc",
der Beginn neoliberaler Politik durch Politiker wie Thatcher (England)
und Reagan (USA)sowie der Hausbesetzungsrevolten z.B. in Frankfurt,
Hamburg und vor allem in Berlin. Außerdem waren auch die Perspektiven
der Postmodernität in Kunst und Philosophie für dieses 80er Jahrzehnt
prägend. Hingegen rechnete man Ereignisse wie die Ende der 80er
Jahre aufkommende Techno-Kultur später im grob verallgemeinernden
Rückblick eher zu den 90er Jahren, weil sie sich da vom Ni-
schenphänomen des Underground
zum Massenphänomen entwickelt hat. In diesen 90er Jahren war zum Beispiel
auch der Beginn der digitalen Revolution prägend, als Computer zum
festen Bestandteil der meisten Personenhaushalte wurden und das World Wide
Web das Licht der Monitore erblickte.
Soche unter ein Jahrzehnt subsumierten
Charakteristika finden in allen möglichen regio-
nalen Maßstäben statt:
das Jahrzehnt des gesamten Globus, das eines Kontinents, nicht selten auch
das einer Stadt, wenn sie in einem Jahrzehnt genug epochenmarkante Ereignisse
bietet .
So hatte auch Westberlin seine speziellen
Jahrzehnte und eines davon waren die 80er Jahre.
Die 80er Jahre in Westberlin
1981 hatte Westberlin die seit langem
heftigsten Auseinandersetzungen zwischen links-
alternativer Szene und Polizei erlebt.
In Stadtbezirken wie Schöneberg und Kreuzberg standen zahlreiche Häuser
seit Jahren leer, weil Eigentümer-Spekulanten sie verfallen lassen
wollten, um sie daraufhin mietsteigernd luxussanieren zu können. Oft
wurde auch auf den Totalverfall der Gebäude spekuliert, um sie abreißen
und an ihre Stelle neue Häuser bauen zu können. Die in Westberlin
seit langem stark vertretene linksalternative Szene begann, sich die leerstehenden
Häuser zu nehmen, sie instandzu(be)setzen und ihre eigenen Vorstellungen
vom Leben jenseits von Lohnarbeit und Familie darin zu ver-
wirklichen. Jedes Haus stellte gewissermaßen
eine Kommune dar und anstatt in bürger-
lichen Familien lebten die Bewohner
in einer Art antibürgerlicher Hausfamilie. Die hausbe-
sitzenden Spekulanten pochten auf
ihr Eigentum und versuchten ihr Eigentumsrecht über
den Berliner Senat durchzusetzen,
der die Häuser von der Polizei räumen ließ, was nie ohne
massiven Widerstand erfolgte. Daraufhin kam es zu Demonstrationen und heftigen
Straßenschlachten. In Schöneberg starb mit Jürgen Rattay
ein Demonstrant, als er auf der Flucht vor den heranstürmenden Polizeieinheiten
unter einen entgegenkommenden Bus geriet und meterweit von ihm mitgeschleift
und schließlich zerquetscht wurde. Darauhin eskalierte die Situation
noch mehr.
Auf der einen Seite die Gewalt des
Staates, zu dieser Zeit repräsentiert durch den kompromißlos
vorgehenden Innensentaor Heinrich Lummer von der CDU, auf der anderen Seite
die linksalternative Subkultur, die anders als in den 60er Jahren nicht
mehr nur vorwiegend aus ambitionierten Studenten bestand, sondern auch
aus arbeitslosen Punks, Gelegenheitsarbeitern, gesellschaftlichen Aussteigern
und Kleinprojektbetreibern.
Westberlin war für unkoventionelle
Jugendliche schon lange ein Magnet, für die bundes-
wehrpflichtigen Männer z.B.
deshalb, weil es aufgrund des Viermächtestatus keine Wehrpflicht gab
und deshalb auch der zivile Ersatzdienst nicht abzuleisten war, der für
die "Deserteure" meist schon deshalb keine Alternative war, weil
soziales Engagement nicht aus Zwang erfolgen kann. Aber auch die vom Wehdienst
sowieso befreiten Frauen zog es aufgrund des linkspolitischen und zunehmend
auch freigeistigeren Klimas nach Berlin. Hinzu kamen die vergleichweise
geringen Lebenshaltungskosten durch die Sub-
ventionen, die der "Frontstadt der
freien Welt" zuteil wurden.
In den Hausbesetzungen fanden sich
viele der aus Westdeutschland kulturemigrierten Aussteiger zusammen und
experimentierten mit unbürgerlichen Lebensformen. Zu dessen Gestaltungsweisen
gehörte auch das Transformieren der reinen Funktionalität von
Haus-
Fassaden, die bemalt, besprüht,
mit Statements versehen wurden. Manche der besetzten Häuser waren
mit riesigen Bildern bemalt, um dem öden Gesicht reiner Funktionalität
der Gebäude das Traumhafte der Phantasie entgegensetzen und die unmittelbare
Lebenswirk-
lichkeit dem rationalisierenden
Realitätsprinzip zu entziehen. Weil sich der Traum vom an-
deren Leben auch als ein Traum vom
Leben
als Traum sowohl im utopischen als auch das Realitätsprinzip verweigernden
Sinne verwirklichen wollte. Die kreative Umgestaltung der Wirklichkeit
in eine Traumlandschaft zum Beispiel durch Zweckentfremdungen, Wandma-
lereien, Graffitis und drastisch
veränderte Körper-Äußerlichkieten (z.B. im Punk) trug
zur Transformation des Realen und seines Funktionstotalitarismus bei.
Zunehmend zierten Sprüche und
comicartige Figuren zahlreiche Mauern und Häuserwände, Werbeflächen
wurden übersprüht, U-Bahnen mit Graffitis versehen. Alles, was
dazu die Möglichkeit bot wurde in Projektionsflächen der
eigenen Subjektivität verwandelt, welche ein Gegengewicht zur normierenden
Bedienungsanleitung der Wirklichkeitsrezeption dar-
stellten. Über die lebendige
Diskursivität dieses Phänomens als Reaktion auf die reinen Monologe
der Medien hat der französische Soziologe Jean Baudrillard in seinem
Buch "Kool Killer oder der Aufstand der Zeichen" geschrieben, wobei er
sich dort vor allem mit der amerikanischen Graffiti- und Streetartszene,
speziell der New Yorks auseinandersetzte.
Die Protagonisten dieses neuen Berliner
Öffentlichkeitsphänomens kamen nicht bloß aus der Hausbesetzerszene.
Graffiti-Kids, Künstler und mancher andere entdeckten die Mög-
lichkeit zum spontanen oder organisierten
öffentlichen Ausdruck auf den Flächen, die die Stadt bot. So
war es dann auch nicht verwunderlich, daß in Berlin auch die Berliner
Mauer als Ausdrucksläche entdeckt wurde. Sie stellte nicht nur den
grössten Platz für die öffentliche Äußerung der
eigenen Kreativität und gedanklichen Botschaft zur Verfügung,
sondern bot sich durch die spezielle Langweiligkeit ihres meterhohen und
kilometerlangen Graus geradezu an, optisch transformiert zu werden
Hinzu kam der Vorteil, daß die Mauer zur DDR gehörte und ihre
"Beschmierung" (Behördenjargon bei Fassadenmalerei) daher in Westberlin
niemanden störte. Aufgrund der 5-Meter -Zone vor der Westmauer, die
zum Ostberliner Territorium gehörte, hätte die Westberliner Polizei
sowieso nicht eingreifen können. Aus dem politischen Charakter als
Gefängnismauer der DDR wurde so der politi-
sche Charakter eines oft diffusen
öffentlichen Diskurses, ausgetragen in Botschaften,
spontanen Affekt-Statements, Stuss,
Ironie, Bildern, Graffitis, Symboliken und Installationen. Indem man sie
als Fläche des eigenen Ausdrucks benutzte sabotierte man die aufgezwungene
Akzeptanz ihrer reinen Funktionalität.
In mancherlei Hinsicht fungierte
die Mauer wie ein Spiegel des Westberliner Lebens. Ihr Grau, was durch
Malereien aufgehoben wurde spiegelte die Langweiligkeit einer oft in Stadtbezirksprovinzialität
versinkenden Sonder-Metropole, welche von Straßenrandalen, Kunstaktionen,
Subkulturereignissen plötzlich durchbrochen wurde. Diese Langweiligkeit
garantierte die Grundmonotonie,
die für das Aufkommen neuer Inspirationen und Kurz-
weiligkeitsgelüsten notwendig
war. Auch spiegelte das unterschiedlich sich darbietende konkrete Bild
der Mauer das öffentliche Erscheinungsbild mancher Berliner Regionen.
In mauernahen Stadtbezirken wie Kreuzberg oder Neukölln, wo Künstler
und Subkulturen stark vertreten und Hausfassaden oft von Sprüchen,
Symbolen und Bildern bemalt waren, war auch die Berliner Mauer entsprechend
üppig bemalt, wohingegen in den mauernahen gutbürgerlichen Westberliner
Bezirken die Mauer oft vergleichweise "unbefleckt" blieb.
Mehr oder weniger angefangen hatte
alles in Kreuzberg. Der Musiker Alexander Hacke beschreibt es so:
„Vom Fenster seines Zimmers im Rauch-Haus schaute er (der Streetart-Künstler
Thierry Noir...d.Verf.) direkt auf die Mauer, die zu diesem Zeitpunkt (1982/83...d.Verf.)
ausschließlich mit politischen Parolen beschriftet war. Eines Nachts,
im April 1984, hatte er die im Nachhinein historische Eingebung, die deprimierende
Zonengrenze mit bunten großflächigen Malereien zu dekorieren
und er machte sich augenblicklich mit Pinsel, Farbeimer und einer Baulampe
bewaffnet ans Werk. Ein weiterer französischer Künstler, Christophe
Bouchet, der ebenfalls im Rauch-Haus wohnte, beteiligte sich gleich am
nächsten Tag an Thierrys Arbeit und in kürzester Zeit hatten
die beiden mehr als einen Kilometer der Kreuzberger Mauer am Bethanien
grundiert und zu bemalen begonnen. Natürlich dauerte es nicht lange,
bis auch Kiddy und ich bei dem Spaß mitmachten.“ (Alexander Hacke,
„Krach“ S.82)
Nähe Künstlerhaus Bethanien,
1984
(Foto-Copyright Heinz J.Kuzdas)
Auf der anderen Seite hatte diese
kulturevolutionäre und der deprimierenden Gewaltprä-
senz entgegenwirkende Zweckentfremdung
gewissermaßen auch eine tückische Wirkung.
Je mehr die Berliner Mauer
zur grössten Westberliner Ausdrucksplattform der öffentlichen
Kreativität mutierte, umso attraktiver wurde sie offenbar für
manchen ihrer Nutzer und auch für diejenigen, die sich die visuellen
Ergebnisse dieser mehr und weniger kreativen
Zweckentfremdung ansahen.
Anhand der Vielzahl der Bilder konnte
man den Eindruck haben , daß die das Leben des Westberliner Bewohners
eingrenzende Mauer aufgrund der Möglichkeiten, die sie als un-
konventionelle, kostenfreie öffentliche
Plattform bereithielt offenbar eine große Anzie-
hungskraft hatte. So jedenfalls
mutete es an. Dabei spielte nicht nur die große Malfläche eine
Rolle, sondern wie bereits erwähnt auch die Tatsache, daß die
Westberliner Polizei hier im Gegensatz zu Fassadenmalereien in Westberlin
keinen Grund zu einer Strafverfol-
gung hatte, da die Berliner Mauer
kein Eigentum Westberlins war.
Die DDR-Grenzposten wiederum bekamen
die meisten der Malereien gar nicht mit, weil das Stückchen Mauer,
das bemalt wurde aus der Wachturm-Perspektive oft gar nicht einseh-
bar war, sofern es sich nicht in
einem Mauerknick befand, dem gegenüber einer der beiden Knickseiten
sich ein Wachturm befand, was eher selten der Fall war.
Es stellt sich eine Frage: "Handelete
es sich bei diesem vermeintlichen Widerspruch zwi-
schen physischem Eingegrenzsein
und schöpferischer Ausdrucksmöglichkeit überhaupt
um ein Paradox oder wurde die ummauerte Situation Westberlins nicht vielmehr
gerade von vielen jungen Menschen gar nicht mehr als negativ wahrgenommen.
Immerhin zogen doch sehr viele Leute in die Mauerstadt Westberlin und davon
nur ein Teil aus Flucht vor dem Wehrdienst, viele einfach deshalb, weil
es ihnen dort sehr gut gefallen würde. Die Berliner Mauer störte
sie also offenbar nicht besonders. Hätten sie Berlin noch ohne
Mauer erlebt und zu dieser Zeit bereits in Westberlin gewohnt wäre
die plötzliche Existenz der Mauer sicher ein Schock gewesen. So aber
bedeutete ihre Existenz gewissermaßen eine Gegen-
wartsnormalität, für die
sie sich bei ihrem Umzug nach West-Berlin mitentschieden hatten und
die zudem die subkulturelle Oase West-Berlin vor der DDR schützte.
Denn niemand der aus der Öde westdeutscher Konsumwohlstandsstädte
nach Berlin umgezogenen und hier die Selbstverständlichkeit des Andersseins
genießenden Außenseiter, Exzentriker, Pazifisten, Künstler,
Punks und sonstigen Anarchisten mochte mit der deprimierenden Lebensweise
Ostberlins alltäglich in Berührung kommen. Insofern handelte
es sich bei den Mauermalereien auch nicht um die Selbsttäuschung über
eine reale negative Situation, sondern um die adäquate Innendekoration
einer Zufluchts-Insel für Flüchtlinge des westdeutschen Lebensmodells.
Daß einige der Dekorateure dabei sicher auch wünschten und annahmen,
mit den Malereien die graue Wucht der Betongrenze optisch und atmo-
sphärisch zu zersetzen und
damit letztlich an ihrem Zusammenbruch mitzuwirken kann man wohl annehmen.
Es verhält sich dabei wahrscheinlich ähnlich wie bei der Besprühung
der Betonfassaden einer Trabantenstadt mit Graffitis und Parolen, die nicht
nur Zeichen von Lust an Widerstand und Ausdruck, sondern oft auch von der
mehr oder weniger diffusen Hoffnung inspiriert sind, daß die tristen
Funktionswände, die man da besprüht
und bemalt durch einen u.a. auch
von den damit erzeugten Bildern, Sprüchen und Symbolen motivierten
Aufstand eines Tages zerstört werden. Es bleibt trotz mancher
realer Eruptionen dabei in erster
Linie ein Bild, ein Wunsch-Bild.
Eine Westberliner Band, die sich
Anfang der 80er Jahre gegründet hat, nannte sich "Ein-
stürzende Neubauten." Als man
den Bandnamen zum ersten Mal hörte klang es wie der Name für
eine grosse Sehnsucht.
Simuliertes ländliches Flair
im Westberliner Zonenrandgebiet. Berliner Mauer in Kreuz-
berg. (Fotoarchiv W. Hasch)
Lebensstreifen vor Todesstreifen.
Mauer in Kreuzberg (Archiv W. Hasch)
Wrangelstraße in Kreuzberg
1986. Sprüche auf sperrmüllgesäumter Häuserfassade.
(Fotoarchiv W.Hasch)
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